Vollmond 6-2023

Der schlafende Riese SAGE aus dem Mondseeland I 18 VOLLMOND 6/2023 n den Klüften des Schobers und der Drachenwand hauste einst der gefürchtete Riese Griestann. Nur selten bekamen ihn die Talbewohner zu sehen und dann jagte er mit seinem wil- den Aussehen jedem Angst ein. Der mächtige Schädel saß auf gedrungenen Schul- tern, die Züge wirkten hart und verschlossen. Die tieflie- genden Augen wurden durch buschige Augenbrauen be- schattet, die ebenso struppig wie sein Bart waren. Seine Geschäfte waren nicht immer lauterster Art. Mit finsterer Entschlossenheit war er dar- auf aus, Reichtümer anzuhäu- fen. Er war den ganzen Tag unterwegs, um den Bewoh- nern der Salzburger Gegend das mühsam in Bergwerken geschürfte Gold und Silber abzunehmen. Mit seinem hochrädrigen Holzkarren, der von zwei feurigen, pech- schwarzen Geißböcken gezo- gen wurde fuhr er durch Thal- gauegg zu seiner mächtigen Felskammer beim Schober. Eines Tages streifte ein jun- ger Wanderbursche durch die Gegend rund um den Schober und hörte in einem Gasthaus bei der „Hundsmarktmühle“ von den Untaten des Räubers. Er wollte die Gegend von dem wilden Räuber befreien. Am nächsten Tag machte er sich auf die Suche nach dem Riesen. Er kam auf eine Lichtung von der ein ganz besonderer Zauber ausging. Ein ausladener, blühender Holunderstrauch beherrschte die Lichtung. Schmetterlinge tanzten um ihn herum und der süße, unvergleichlich be- törende Duft schien fast be- täubend zu sein. „Vielleicht kann ich den Riesen mit der Wirkung der Blüten überwäl- tigen“, dachte der Bursche. Er pflückte einen Strauß und die Schmetterlinge ließen sich darauf nieder. Nun machte er sich wieder auf den Weg. Bald stand er einer hohen Felsspalte gegenüber und er rief „Griestann!“ hinein. Der Riese erschien mit wil- dem Poltern und schüttelte vor Zorn einen Tannenbaum – dies machte er stets wenn er wütend war – daher auch sein Name: Griestann. „Was willst du?“ schnaubte er den Burschen an. „Ich möchte dir meinen Gruß entbieten und einen Blumenstrauß bringen. Er ist mit Edelsteinen besetzt, schau die Blüten sind voller Smaragde und Bergkristal- le!“ Der Riese steckte das Gesicht tief in den Blumen- strauß und nahm einen tiefen Atemzug. Nun kitzelten ihn die Schmetterlinge und der Duft des Hollers in der Nase und er nieste explosionsartig. Die zierlichen Holunder- blüten zerstreute es in alle Himmelsrichtungen und wo sie hinfielen, wuchsen später Holundersträucher. Plötz- lich wankte der Riese und fiel rückwärts in seine Höh- le in einen tiefen Schlaf aus dem er nicht mehr erwachte. Der Jüngling aber schleppte die Schätze ins Tal und ver- teilte sie unter den Armen im Dorf. Die Stelle, wo einst die Höhle lag, wurde von nun an „Schatzwand“ oder „wilde Kammer“ bezeichnet. Sagenquelle aus dem Buch: Goldbrünnlein und Drachen- wand. Sagen und Märchen einer Landschaft für Erwach- sene und Kinder, Illustratio- nen Heilgard Maria Bertel, Herausgeber, Verleger Prof. MMag. DDr. Bernhard Bal- thasar Iglhauser, Verkauf: im Gemeindeamt Thalgau

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